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Reisereportage

Victoria, Bloggerin
22. März–31. März 2016

Reisereportage: Trauerreise Jakobsweg


Knapp sechs Kilogramm auf dem Rücken, 166 Kilometer Fußmarsch vor mir: 10 Tage lang bin ich mit Nureto auf dem Jakobsweg unterwegs. An dieser Stelle möchte ich von meinen Erlebnissen und Eindrücken berichten.


Tag 1 – Meixonfrío
Unsere Reise beginnt in Meixonfrío, nur wenige Kilometer von Santiago de Compostela entfernt. Auch wenn die Rucksäcke zweier Teilnehmer noch irgendwo zwischen Deutschland und Spanien festhängen, ist die Stimmung gut – schließlich ist Frau auf alles vorbereitet und hat eine Notfallausrüstung im Handgepäck verstaut, während der einzige männliche Pilger der Truppe die erste Etappe wohl oder übel mit einer Plastiktüte antreten muss. Bevor es am nächsten Tag ernst wird, lassen wir es uns hier noch einmal richtig gut gehen und schlafen in dem wunderschönen Landhaus Casa Rural Os Vilares. Die Besitzerin Maika ist eine bezaubernde Gastgeberin: Obwohl die meisten von uns gar kein oder nur gebrochen Spanisch sprechen und eigentlich kein Wort verstehen, fühlen wir uns dank ihrer offenen Art direkt willkommen. Beim üppigen Abendessen mit selbstgemachter Tortilla, Empanadas und weiteren Leckereien ist es Zeit für ein erstes Kennenlernen. Natürlich sind die genauen Beweggründe für die Reise individuell verschieden, eins haben alle Teilnehmer jedoch gemeinsam: Sie sind auf der Suche nach einem Weg, mit der teilweise verdrängten Trauer umzugehen, wollen sich Zeit für sich nehmen und letztendlich ein Stück Freiheit und Leichtigkeit zurückgewinnen. Dass beim Laufen dieser Prozess besonders gut in Schwung kommt, bringt Martina am Abend noch einmal auf den Punkt. Deswegen gilt es nun, die vorerst letzte Nacht in einem kuscheligen Bett noch einmal voll auszukosten, bevor für uns das Unterfangen „Jakobsweg“ am nächsten Tag in aller Frühe beginnt.


Tag 2 – O Cebreiro – Fonfría
Nach einem ausgiebigen Frühstück und einer herzlichen Verabschiedung von Maika steigen wir im Morgengrauen in den kleinen Bus, der uns nach O Cebreiro, dem Startpunkt unseres Weges in etwa 1300 Meter Höhe bringen soll. Je höher wir fahren, desto nebeliger wird es. Trotz der schlechten Sicht ist eines aber ganz deutlich zu erkennen: Hier liegt Schnee. Und zwar ganz schön viel. Als wir nach gut zwei Stunden Fahrt in dem kleinen Dörfchen ankommen, ist die Kirche unsere erste Anlaufstation: Hier bekommen wir unseren Pilgerausweis. Danach kaufen wir jeder eine Jakobsmuschel, das typische Pilgersymbol, das auch auf allen Wegweisern zu finden ist und uns als Erkennungszeichen und Glücksbringer dienen soll. Nachdem wir unseren Pilgerausweis ausgefüllt haben, heißt es dann endlich: Rucksack aufsetzen, noch einmal die Schuhe fest zuschnüren und buen camino – unsere erste Etappe auf dem Jakobsweg beginnt. Aufmerksam halten wir Ausschau nach den gelben Pfeilen, die uns den richtigen Weg weisen. Dieser führt am ersten Tag die meiste Zeit bergab ins Tal und vorbei an zentimeterdicken Schneeschichten.
Nachdem wir in unserem heutigen Ziel Fonfría unsere Herbergszimmer bezogen und uns von der ersten Etappe erholt haben, findet die erste der nun allabendlichen Gesprächsrunden statt. Danach erwartet uns unser erstes offizielles Pilgermenü: Bei Suppe, Reis mit Gemüse und Fleisch und der hervorragenden Tarta de Santiago, ein traditioneller Mandelkuchen, zelebrieren wir unsere erste gemeisterte Etappe. Der einzige Wehrmutstropfen: Es ist verdammt kalt. Zum Glück bereitet uns die Herbergsmutter eine Queimada zu, eine Art galizische Feuerzangenbowle, mit der eindrucksvoll böse Geister vertrieben werden sollen. Ob das wirklich klappt, sei dahingestellt, aber nach dem Genuss des Getränks ist zumindest die Kälte wie weggeblasen.


Tag 3 – Fonfría – Samos
Am nächsten Tag beweist dann auch endlich das Wetter, dass wir uns im Süden Europas befinden: Je weiter wir Richtung Tal laufen, desto mehr schmilzt Schnee. Bei unserer ersten Rast sitzen wir in der prallen Sonne und gönnen uns einen kühlen Orangensaft, den es hier überall frisch und günstig zu kaufen gibt. Schon auf der zweiten Etappe haben sich bestimmte Konstellationen innerhalb der Gruppe herauskristallisiert. Während es einige Teilnehmer bevorzugen, in kleinen Grüppchen die Kilometer gemeinsam zurückzulegen, nutzen andere die Zeit, um einmal ganz bei sich zu sein: Sie gehen entweder alleine vorweg und genießen zwischendurch den weiten Blick über das Tal oder lassen sich gemütlich zurückfallen, um die Natur in aller Ruhe auszukosten. Judith und Martina geben dabei natürlich Acht, dass am Ende des Tages alle am vereinbarten Ziel ankommen, sie bilden die Vor- und Nachhut der Truppe.
In unserem heutigen Etappenziel Samos schlafen wir zum ersten Mal alle gemeinsam in einem Raum. Klassenfahrt-Stimmung kommt auf: „Ich möchte unten schlafen!“ – „Ich hätte gern das Bett am Fenster!“ – „Kannst du mir mal mit dem Bezug hier helfen?“ Als alle Betten bezogen sind, steht für einige die Besichtigung des hiesigen Klosters an, andere gönnen sich lieber ein bisschen Ruhe und ein kühles Bier. Leider verpassen wir die berühmten gregorianischen Mönchsgesänge, doch der nette Padre des Klosters lädt uns zu später Stunde zu einer Exklusiv-Messe ein. Das nette Angebot nehmen wir natürlich dankend an, doch ausdauernd sind wir nicht gerade: Nach etwa dreißig Minuten macht sich bei den meisten von uns die Schnapsverköstigung beim vorangegangenen Abendessen bemerkbar und das Verlangen nach unseren Betten wird einfach zu groß. Bei dem sonnigen Gemüt des Padres hat er uns den verfrühten Abgang aber bestimmt nicht allzu übel genommen.


Tag 4 – Samos – Barbadelo
Heute werden wir zur Abwechslung einmal nicht von unseren Mobiltelefonen geweckt. Auch wenn eine Teilnehmerin es nicht glauben mag, handelt es sich tatsächlich um einen Hahn, der uns mit seinem Geschrei in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf reißt. Nachdem uns auch die Herbergsmutter die Echtheit des Tieres bestätigt, haben die Diskussionen ein Ende und wir machen uns auf den Weg Richtung Barbadelo. So langsam merkt auch mein Rücken, auf was ich mich da eingelassen habe. Hier und da ziept es ein wenig, dabei trage ich mit 6,5 Kilogramm das geringste Gewicht der Truppe. Auch bei den anderen melden sich die ersten Wehwehchen und am Abend werden die ersten Gedanken laut, den Rucksack am nächsten Tag mit dem Taxi zur Herberge zu transportieren. Das geht für wenig Geld und klingt ziemlich verlockend, doch ich entscheide mich gegen diese Option – wenn ich schon einmal hier bin, möchte ich auch das wahre Pilger-Feeling, mit allen Freuden und Unannehmlichkeiten, die dazu gehören. Zu dem Thema Ballast abwerfen passt auch das heutige Trauerritual, das in einem kleinen Waldstück nahe der Herberge stattfindet.


Tag 5 – Barbadelo – Gonzar
Heute steht die längste Etappe an: 26 Kilometer liegen zwischen Barbadelo und unserem Ziel Gonzar. Die Strecke führt über weite Felder und durch alte Wälder, heute passieren wir auch die 100 Kilometer Marke. Kurz vor dem Ende des Weges liegt der Ort Portomarín. Schon der Anblick des von einem Stausee umgebenen Städtchens ist beeindruckend, allerdings trennt uns von einer lang ersehnten Rast eine Brücke, die nicht gerade aussieht, als würde der deutsche TÜV sie ohne Weiteres durchgehen lassen. Die Aussicht auf eine Stärkung in dem schönen Städtchen überwiegt jedoch die Bedenken und so kämpfen wir uns im Schneckentempo und die Balustrade fest umklammert Richtung Portomarín.
Auf den letzten Kilometern des Tages regnet es wie aus Kübeln, innerhalb weniger Minuten bin ich nass bis auf die Knochen. Bei jedem Schritt schmatzen meine Schuhe und meine ganze Hoffnung gilt der Schutzhülle meines Rucksacks, die zumindest meine Wechselkleidung und meinen Schlafsack vor der Nässe verschonen soll. Ein kleiner Trost am Ende des Tages ist die Erkenntnis, dass selbst die teuerste Funktionskleidung mancher Teilnehmer den Wassermassen ebenfalls nicht gewachsen ist und wir alle gemeinsam unsere Schuhe am prasselnden Kamin trocknen.


Tag 6 – Gonzar – San Xulián
Heute ist Ostersonntag. Statt bunten Eiern suchen wir aus dem riesigen Haufen gewaschener Wäsche unsere Klamotten zusammen. Da kann es auch schon einmal vorkommen, dass eine Socke auf mysteriöse Art verschwindet oder sich in ein unbekanntes T-Shirt ohne auszumachenden Besitzer verwandelt. Als jeder seine Habseligkeiten beisammen hat und kleine Beschwerden wie Blasen und schmerzende Knie von Judith fachmännisch verarztet sind, brechen wir auf. Während Judith sich fürsorglich um das leibliche Wohl der Teilnehmer und alle organisatorischen Belange kümmert, steht Martina stets für ein Gespräch zur Verfügung, um sich jeden spontanen oder lang gehegten Gedanken von der Seele zu reden – und zwar nicht nur abends, sondern auch auf dem Weg.
Ziel des heutigen Tages ist die urige Herberge von Miguel im San Xulián. Auf wunderschön verziertem Geschirr serviert er uns am Abend die beste Tortilla, die ich jemals gegessen habe – und das soll bei den Mengen an Eierkuchen der letzten Tage schon etwas heißen! Überhaupt, das Pilger-Essen: So schlecht wie sein Ruf ist es bei Weiten nicht. Natürlich darf man keine kulinarischen Höchstleistungen erwarten, aber selbst ich als Vegetarierin gehe immer zufrieden und satt ins Bett. An diesem Abend bleiben wir noch lange wach. In gelöster Runde werden schöne Erinnerungen und Anekdoten über die Verstorbenen ausgetauscht. Dabei fließen auch einige Tränen – allerdings nicht nur aus Trauer, sondern mindestens ebenso häufig vor Lachen.


Tag 7 – San Xulián – Ribadiso
Mittlerweile hat sich auf dem Weg so etwas wie Alltag eingestellt. Die Katzenwäsche im Morgengrauen, das Einrollen des Schlafsacks, das bescheidene Wetter. Auch die Pfeile und Wegweiser, nach denen ich in den ersten Tagen noch angestrengt gesucht habe, um sie bloß nicht zu verpassen, finde ich jetzt auf Anhieb. Neben dieser Routine steht heute allerdings ein Novum auf dem Plan: Zum ersten und einzigen Mal schlafen wir in einer öffentlichen Herberge. Für mich heißt diese Erfahrung wiederum: Ohrstöpsel griffbereit halten und jegliche Bedenken an öffentliche Duschen und Toiletten möglichst verdrängen. Das klappt auch ganz gut, die sanitären Anlagen versprühen zwar Freibad-Atmosphäre, allerdings sind sie sauber und spenden heißes Wasser, was wir alle angesichts der immer noch mäßigen Wetterverhältnisse sehr zu schätzen wissen. Beim heutigen Ritual macht sich Martina den kleinen Fluss zu Nutze, der sich direkt an der Herberge vorbeischlängelt. Auf bunten Papierschiffen verewigen die Teilnehmer Gedanken und Erinnerungen, die sie hinter sich lassen möchten. Hier brechen auch bei den bisher gefassten Teilnehmern die Dämme, doch der gemeinsame Blick auf die langsam verschwindenden Schiffchen geben Kraft und Zuversicht.


Tag 8 – Ribadiso – Pedrouzo
Es ist noch dunkel, da werden wir durch ein lautes Geräusch aus unseren Träumen gerissen: Wer duscht denn da bitte um diese Uhrzeit? Die Erkenntnis kommt nur wenige Momente später: Das ist kein Wasserhahn, der da lautstark vor sich hinplätschert, sondern sturzbachartige Regenfälle. Eine Besserung ist auch nach dem Frühstück nicht in Sicht und so geht es heute 23 Kilometer durch den Dauerregen. Da wir alle in unseren Regenponchos mittlerweile eine ziemlich gute Figur machen und nasse Füße sich fast schon normal anfühlen, wird das Wetter nicht mehr groß thematisiert, sondern einfach ertragen. Trotzdem bin ich froh, als ich am Ende des Tages unter der heißen Dusche unserer Herberge in Pedrouzo stehe, die eher einer hippen Jugendherberge als einer besinnlichen Pilgereinkehr ähnelt. Hier gibt es sogar Schuhtrockner, welch ein Luxus! Während sich unser Schuhwerk für die letzte Etappe wappnet, steht für uns das letzte Pilgermenü auf dem Plan. Dieses wird zwar ausgiebig genossen, allerdings verabschieden wir uns zeitig in unsere Hochbetten – wir müssen noch einmal Kräfte sammeln für unsere letzte Etappe nach Santiago de Compostola.


Tag 9 – Pedrouzo – Santiago de Compostela
Der Wecker klingelt um vier Uhr. Während ich zuhause zu dieser Zeit weder zurechnungsfähig noch ansprechbar wäre, bin ich heute schlagartig hellwach: Heute geht es nach Santiago! Mit Stirn- und Taschenlampen ausgestattet machen wir uns gemeinsam auf den Weg, denn in der Dunkelheit wollen wir heute zusammen bleiben. Unsere Nachtwanderung unter der furchtlosen Führung von Judith führt uns durch dichte Wälder, da dauert es schon einmal ein bisschen länger, bis man die gelben Pfeile ausfindig gemacht hat. Als wir den Stadtrand von Santiago de Compostela erreichen, ist es hell. Mit Churros und warmer Schokosauce stärken wir uns noch einmal für die letzten Meter und dann ist es endlich so weit: Der Weg durch das Tor hin zum Platz vor der Kathedrale fühlt sich einfach fantastisch an. Natürlich regnet es wieder wie aus Eimern, doch das ist allen egal. Auch die Rücken-, Kopf- und Fußschmerzen sind vergessen. Wir haben es tatsächlich geschafft. 166 Kilometer sind wir gelaufen – ich kann es selbst nicht glauben.
Pünktlich um zwölf Uhr beginnt die Pilgermesse. Zwar kommen wir nicht in den Genuss des Botafumeiro, das bekannte schwingende Weihrauchfass, dafür haben wir das Glück, dass ausgerechnet an unserem Ankunftstag ein Männerchor Halt in Santiago macht und während des Gottesdienstes sein Können beweist. Völlig durchnässt und durchgefroren von der Kälte in der Kathedrale überfällt mich schlagartig die Anstrengung der letzten Tage. Die Monotonie der Predigt, von der ich sowieso kein Wort außer „Peregrino“ verstehe, tut da ihr Übriges – ich möchte einfach nur noch ins Bett. Nachdem wir uns die Compostela, den schriftlichen Beweis unserer Meisterleistung, im Pilgerbüro abgeholt haben, steigen die meisten von uns in die wohlverdienten Badewannen oder gleich in die weichen Betten unserer gemütlichen Hotelzimmer, die wir erst wieder für das üppige Abendessen in einem ungewohnt schicken Restaurant wieder verlassen. Statt Pilgermenü werden uns hier allerhand galizische Spezialitäten gereicht, von Stockfisch über Schweineohren bis hin zu wundervollem Nachtisch und, natürlich, reichlich Schnaps. Die Stimmung ist ausgelassen, allen ist der Stolz sichtlich anzumerken – das haben wir uns verdient!


Tag 10 – Santiago de Compostela
Typisch: Am letzten Tag der Reise zeigt sich das Wetter doch noch einmal von seiner besten Seite und lädt zum Bummeln in den schmalen Gassen der Stadt ein. Auch ein zweiter Besuch des Gottesdienstes steht für einige von uns auf dem Tagesprogramm, diesmal in trockenen Klamotten, allerdings wieder ohne den Botafumeiro in Aktion. Erholt und ausgeschlafen ist nun auch die Zeit, die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Alle fahren mit neuen Perspektiven, positiven Gedanken und schönen Erinnerungen nach Hause. Eine der treffendsten Erkenntnisse lautet: Egal wie, es geht immer weiter! Und so geht es am Nachmittag zunächst einmal Richtung Flughafen. Am Check-In wird mir schlagartig bewusst, dass der Beutel mit meinen Wanderschuhen noch im Taxi liegt. Schusseligkeit oder Schicksal, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall verspüre ich keinen Zwang, ihnen hinterher zu telefonieren und lasse sie einfach zurück. Für das nächste Mal auf dem Camino möchte ich sowieso ein leichteres Paar, vielleicht mit einer besseren Sohle. Denn genau wie für einige der Teilnehmer steht auch für mich jetzt schon fest: Ich komme auf jeden Fall zurück.

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